Monday, October 21, 2019

Warum JOKER (2019) so signifikant ist


Mit diesem Titel meine ich nicht nur, warum ich denke, dass Joker ein sehr signifikanter Film unserer Zeit ist, oder warum er so signifikant für diverse Individuen ist. Ich meine damit vor allem auch, dass er für mich persönlich so signifikant ist, dass er mich so immens berührt, er in mir so viel aufgewühlt hat, sodass ich sogar noch etliche Tage nach dem Kinobesuch neben der Spur war (und immer noch ein bisschen neben der Spur bin).


In meiner dezent chaotischen "Review" sagte ich, dass es nur ein Film ist, und während dies so stimmt, so sind (viele, nicht alle) Filme eine Form der Kunst, und Kunst reflektiert das menschliche Dasein und seine Interaktion und Korrelation (oft auch Kausalität) zwischen der eigenen Existenz und der Welt, in der wir leben. Diese Welt kann nur aus dem engen sozialen Umfeld bestehen, der modernen Gesellschaft als Ganzes (auch auf globaler Ebene), der Welt als planetares Habitat und so weiter.
Und Joker macht genau dies zum Thema, ein Thema, das für uns alle relevant ist.

Wir alle leben in dieser Welt, aber sind wir tatsächlich ein Teil davon und erfahren uns selbst als solches?
Haben wir die richtigen Werte, verfolgen wir die richtigen Ziele, um ein erfülltes Leben zu führen?
Werden nebst unseren materiellen und physischen Bedürfnissen auch unsere mentalen, psychologischen ausreichend befriedigt und genährt?

An dieser Stelle möchte ich einen höchst interessanten TED-Talk verlinken, der dieses Thema behandelt. Ich empfehle dieses Video an dieser Stelle zu sehen, ehe man weiter liest.




Ok, und was hat das nun alles mit Joker oder dir oder mir persönlich zu tun? Ich finde, das im Video Gesagte und im Film Gezeigte macht es eigentlich schon recht offensichtlich, aber ich werde natürlich noch versuchen, das Ganze auf meine Weise zu zerdröseln, auch, weil der Film in mir etwas los gestoßen hat, was ich durchdenken, sortieren, analysieren und entsprechend verpacken muss. Dieser Blogpost hier ist gleichsam also auch Teil einer Art persönlicher Therapie-Stunde für mich selbst. Es kann chaotisch und ungeordnet werden, also erwartet nicht zu viel. Erwartet am besten gar nichts hiervon.



Das dem Film Zugrundeliegende hat nichts mit Geschlecht, ethnologischen Gruppen, Religion oder dergleichen zu tun, denn Joker spricht etwas auf einem viel fundamentaleren, menschlicheren Level an, das jenseits dieser Dinge steht. Menschen, die also versuchen Joker als Film für den "weißen Mann", als gewaltverherrlichend etc. zu verunglimpfen, blicken nicht weit, nicht tief genug.
Ich bin weiblich, werde nächsten Monat 33 Jahre alt, bin seit 14 Jahren in einer festen Beziehung, stehe mehr oder minder mitten im Leben. Ich fühle mich durch den Film nicht angegriffen, falsch repräsentiert, bedroht, außen vor gelassen oder was auch immer. Im Gegenteil, ich kann mich mehr mit Joker, Film wie Figur, identifizieren und darin wiederfinden als mir eigentlich lieb sein sollte.
Zieht also eure Köpfe aus euren Ärschen heraus und versucht das Gesamtbild mit etwas mehr Offenheit und weniger Vorverurteilung zu betrachten (vor allem ihr lieben SJW). Versucht etwas menschlicher zu sein, denken, fühlen.


Eins unserer menschlichsten Grundbedürfnisse ist sozialer Natur. Wir sind soziale Tiere, brauchen einander. Wir brauchen Anerkennung, Wertschätzung, Wärme, Nähe, Zuneigung, Akzeptanz, das Gefühl jemand zu sein, etwas beizutragen, gesehen, gebraucht, geliebt, respektiert zu werden.

Was passiert, wenn man einem Menschen all dies versagt, willentlich und wissentlich oder nicht? Wenn man ihn links liegen lässt, sich selbst überlässt, ihm anstatt die Befriedigung dieser Grundbedürfnisse zu bieten nur weitere Häme, Kälte, Ablehnung, Schläge in die Magengrube gibt, obwohl er daran bemüht ist sich Hilfe zu holen, auch indem er versucht diese Bedürfnisse auf eigene Faust zu befriedigen?
Warum sind wir schockiert darüber, dass jemand, den wir als gesellschaftliches System und zwischenmenschliche Kommune so lange vernachlässigt haben, entgleist und eventuell auch eskaliert, gegen andere oder gegen sich selbst gerichtet?

Warum wenden wir uns von denen ab, die leiden, zu kämpfen haben, Hilfe benötigen, warum belächeln wir sie als schwach oder krank oder verrückt oder entartet oder als etwas geringeres als uns selbst? Warum sagen wir ihnen "reiß dich zusammen", "stell dich nicht so an", "so schlimm kann es gar nicht sein", "steiger dich da nicht so hinein", "versuch das Ganze positiver zu sehen", wenn es doch offensichtlich ist, dass wir ihnen damit nicht helfen, sondern höchstens nur dazu beitragen, dass ihre Lage schlimmer wird? Warum sind wir so kalt, so egozentrisch?
Warum gehen wir davon aus, dass wir selbst die schwerste Last von allen zu tragen haben und alle anderen "nur so tun" oder unser Leid nicht nachvollziehen können?
Warum tun wir es als Selbstmitleid ab, wenn jemand sich darüber beklagt einsam zu sein, deprimiert zu sein, sich öffnet und sein inneres Leid, den Leidensdruck nach außen trägt, um irgendeine Form der Erleichterung und Besserung zu verspüren? Warum begegnen wir dem und anderen mit Hohn und Ablehnung anstatt mit Offenheit und Mitgefühl?
Was stimmt mit uns und dieser Denke nicht?!!

Selbstmitleid per se ist nichts schlechtes. Es ist essentiell für die eigene psychische Gesundheit, dass man Mitleid mit und Mitgefühl für sich selbst haben kann. Es ist ok so mitfühlend mit sich selbst zu sein, vor allem dann, wenn dies außerhalb von einem selbst sonst niemand tut. Es ist ok zu denken und zu sagen "ich hasse mein Leben", "mir geht's beschissen", "ich bin einsam", "ich leide", "warum ich?", und so weiter. Es sollte ok sein dies zu verbalisieren, nach außen tragen zu können, ohne dafür Häme, Verachtung und Ablehnung von außen zu ernten.
Aber anscheinend ist das nicht mehr salonfähig, nur noch in stillen Kämmerlein der Therapeuten dieser Welt akzeptabel - oder in noch verborgeneren Rahmen. Noch besser, behalte es besser für dich. Niemand will sich mit dem Leid anderer auseinandersetzen, hat Augen und offene Ohren für das Leid anderer. "Ist doch nicht mein Problem". Das ist halt einfacher, angenehmer, sauberer - Dinge, die einen nicht selbst betreffen, von sich zu schieben, sich damit nicht auseinandersetzen zu wollen. Ich bin da manchmal leider keine Ausnahme. Ich gebe es genau so wenig gerne zu, aber es ist einfach Fakt. Und das schiebe ich nicht von mir weg, egal wie hässlich es auch ist.

Jeder Mensch kann aber auch nur so viel ertragen. Man kann sich dem Leidensdruck anderer nicht immer zuwenden oder nicht für allzu lang, denn irgendwann ist das Maß erreicht, ab dem man keine Kraft mehr dafür hat, man eine Pause braucht. Ich weiß das. Und ich sage auch nicht, dass nur Einzelne dies zu schultern haben. Es ist tatsächlich das System (damit sind nicht nur gewisse Institutionen gemeint, sondern das globale menschliche System) an sich, dass dies schultern sollte, so abgedroschen und klischeehaft dies klingen mag, aber anstatt diese Wahrheit von uns wegzuschieben sollten wir ihr vielleicht einfach zugestehen eine Existenzberechtigung zu haben.
"Ist nicht meine Schuld." Bist du dir da wirklich ganz sicher? Welche Auswirkungen haben deine alltäglichen Handlungen und Worte auf die Mitmenschen in deiner unmittelbaren Nähe? Bist du dir sicher, dass du wirklich nichts zum Leid anderer beigetragen hast, vor allem, ohne dessen Folgen zu mildern zu versuchen?

Es reicht nicht wegzusehen, sich wegzudrehen, nur mit Medikamenten zu mästen, nur mit einem Menschen ein bis zwei Mal die Woche darüber zu reden. Es reicht nicht uns vorzugaukeln, Erfolg, Geld, Status wären alles, was wir zum Glücklichsein brauchen. Konsum und Kapitalismus, Manipulation und Werbung, Social-Media-Narzissmus und Oberflächlichkeit, Distanz, Vorverurteilung und Ablehnung. All das ist ein massiver, schwer tragender Grundpfeiler unserer modernen Leben, vor allem im digitalen Zeitalter. Und ja, das ist ein größeres Problem denn je und seinen Blick davon abzuwenden lässt es nicht einfach verschwinden. Das dürfen wir nicht vergessen.


Joker aber lässt dich das nicht vergessen, packt deinen Kopf, dreht ihn einem Teil dieser Wahrheit zu, hält dir die Augen gewaltsam auf á la "Clockwork Orange", zwingt dich hinzusehen. Vielen macht das Angst, zwingt er sie doch dazu auch die eigenen Unzulänglichkeiten und Fehler zu sehen; lässt sie zurückschrecken und sich dann in Anfeindungen flüchten oder es als Schmu abtun, weil das ist einfacher, angenehmer, sauberer. Wer betreibt schon gern derart intensive Selbstreflexion, klopft an die Tür der eigenen Fehler oder Dämonen? Oder fühlt sich wohl dabei, dass Joker ganz klar mit dem Finger darauf deutet wie kaputt unsere Gesellschaft und unser System ist und dass jeder von uns ein Teil des Problems ist, denn wir sind alle Teil des Systems, egal ob man sich eher als z.B. Arthur Fleck oder Thomas Wayne sieht?
Es verwundert mich daher kein bisschen, dass der Film für so viel Furore gesorgt hat.


Ich wurde jedenfalls vom Film ab der ersten Sekunde abgeholt, habe mich verstanden, wiedergespiegelt gefühlt. Sogar Trost habe ich ihm gefunden, Freude, Genugtuung. Habe mit Arthur mitfühlen, mitfiebern, ihm applaudieren können und wollen. Nicht mal unbedingt für die Morde, nicht für das fehlende Gewissen - aber für sein Loslösen, seine Selbstakzeptanz, sein Für-sich-selbst-einstehen, seine Wandlung, seine Befreiung - und auch, dass er das selbst zelebriert.

Es geht dabei auch nicht nur um psychische Störungen oder dergleichen; jeder, der versucht es darauf zu begrenzen oder einzuengen macht den gleichen Fehler in Grün wie diejenigen, die den Kern des Films auf andere Weise verkennen.

Das einzige, was ich vielleicht an Joker kritisieren könnte, ist die vermeintlich dargestellte Verbindung zwischen mentalen Störungen und Gewalt, aber... da herrscht keine Kausalität vor, sondern nur eine Korrelation, sogar im Film selbst, es ist also nicht nur Subjekt subjektiver Interpretation. Das ist ein weiterer Knackpunkt. Er sagt keine Sekunde lang, dass die Morde nur passiert sind, weil Arthur psychische Störungen hat. Die Morde sind passiert, weil er über den Rand des für einen Menschen Ertragbare bzw. Erduldbare getrieben wurde. Die unzähligen Tropfen, die das Fass zum Überlaufen bringen. "Mit dem Wahnsinn verhält es sich wie mit der Schwerkraft; oft genügt schon ein kleiner Schubs." Bei Arthur waren es extrem viele Schubser, während er verzweifelt versucht hat sich festzuhalten und nicht zu fallen. Hätten die meisten es geschafft so lange durchzuhalten?

Um eins klarzustellen: Nur eine Minderheit der "psychisch Kranken" wird nach außen hin gewalttätig. Die meisten Morde werden von (vorher) sonst psychisch unauffälligen Menschen begangen.

"Verrückt" ist auch so etwas, was einen (vielleicht unfreiwilligen) verächtlichen Beigeschmack hat bzw. haben kann. Wir alle haben das Potential in uns diesen Punkt zu erreichen. Jeder von uns hat den Keim psychischer Störungen in sich, jeder von uns hat eine Spur Narzissmus, Depression, Wahn, Selbstzerstörung, Angst, Unsicherheit, etc. in sich. Ver-rückt heißt nicht, dass man aus heiterem Himmel durchdreht und nicht mehr zurechnungsfähig ist, ver-rückt heißt nur, dass eins oder mehrere dieser Elemente der menschlichen Psyche überhand nehmen, verstärkt werden - bis zu dem Punkt, wo sie beginnen Schaden anzurichten. Verrückte sind also auch nur normal, und Normale potentiell verrückt. Was ist normal, was verrückt? Auch das wird von außen, von dem Übereinstimmen der Masse definiert. Es ist aber ein Spektrum, eine Gratwanderung, manchmal ein Drahtseilakt.
Jeder von uns trägt den Keim eines Arthur Flecks in sich, egal ob wir uns dessen bewusst sind oder es wahrhaben wollen oder nicht. Es ist schlichtweg einer der vielen Aspekte der menschlichen Natur.

Man muss also nicht in der exakt gleichen Situation wie Arthur (gewesen) sein, um seine Gedanken, Emotionen und Beweggründe nachvollziehen zu können. Jeder wird an zumindest einer Stelle irgendwie mit ihm mitfühlen können. Manche an mehreren Stellen, manche wiederum an (fast) allen. Und jeder Fall davon ist ok.

Ich für meinen Fall konnte jede einzelne Situation und Szene nachempfinden, aus meiner persönlichen Sichtweise und Erfahrung heraus, versteht sich. Und das hatte bislang noch kein einziger Film auf die Art und Weise und in dieser umfassenden Vollständigkeit geschafft.

(Die genauen Mechanismen dahinter und deren Auswirkungen auf mich werde ich ggf. zu einem späteren Zeitpunkt hier darstellen und ausbreiten - das hier is' ja immerhin ein Blog, und nachdem ich's stellenweise angedroht hatte... aber ich brauche gerade eine kleine Pause.)



Ist Joker der erste Film, der all dies thematisiert? Nein. Ist er der Film, der es am besten bewerkstelligt hat? Nein. Ist Joker der beste Film aller Zeiten? Nein. Ist Joker dennoch mein neuester absoluter Lieblingsfilm? Ja, ja und nochmals ja.

Warum? Er hat einfach so viel so extrem richtig gemacht. Visuell und musikalisch wunderschön, thematisch hinterfragend, aufrüttelnd, unangenehm, emotional, ehrlich, schmerzhaft, fast unerträglich nihilistisch, befriedigend und noch so viel mehr. Für mich ein Meisterwerk, hohe Kunst und ganz großes Kino.

Allein dass ich noch nie zuvor wegen und über einen Film so viel nachgedacht und niedergeschrieben habe, spricht Bände. Aber es hat mir selbst gut getan, war ein großes Stück heilsam für mich, Balsam für die Seele, der Film sowie meine Gedankenprozesse dazu. Auch deswegen empfinde ich den Film als Geschenk, bin dankbar. Ob ich alleine damit bin? Keine Ahnung, unwahrscheinlich. Spielt das eine Rolle? Vielleicht.


Zum Abschluss noch zwei empfehlenswerte Videos:




1 comment:

  1. Ob geordnet oder chaotisch, nachvollziehbar oder unverständlich (für andere). Deine Form zu schreiben ist deine, so wie du den Film selbst empfunden, nachgefühlt und in dir Gefunden hast, bleibt es dein individuelles Wesen. Dies ist aber nicht gleich bedeutet wie in dem Ted-Talk Video, "Du bleibst du." -Nein... Wie dieser selbst meinte, tust auch du es zu einen 'Wir' wandeln, indem wir hier über das von dir empfundene, gefühlte, erklärende und reflektierende über diese Thematik als auch den Film selbst nachlesen, selbst-befragen und mitfühlend uns Gedanken darüber machen. Daher erfreut es mich sehr dies hier lesen zu dürfen, dich in deinem Wesen besser (wenn auch nur Ansatzweise) kennenzulernen. Es beruhigt nicht, sondern lässt mein Herz selbst aufhüpfen, in dem Wissen, wie sehr dir dieser Film und dessen Anstöße dich in deinem Inneren weiterbringt, motiviert und aufstrahlen lässt. Dies sieht man hier an deinen Texten am besten und dafür danke ich dir sehr.

    mit lieben Grüßen Neyri

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